
„Einem Kind zu lehren, nicht auf eine Raupe zu treten, ist ebenso wichtig für das Kind, wie für die Raupe“
Was ist ein Waldkindergarten?
Ja, ein Waldkindergarten befindet sich im Wald, wie der Name schon sagt. Auf dem Waldplatz befindet sich oft ein Bauwagen als Rückzugsort. Es gibt einen Tisch zum Essen, eine Waldtoilette und Wassertanks, um hygienische Bedingungen zu schaffen. Oft befinden sich auch naturnahe Spielelemente am Waldplatz, wie eine Sandgrube oder Kletterelemente. Der Platz dient sozusagen als Basisstation für die Waldgruppe. Bring- und Abholzeiten, Mittagessen und Morgenkreis werden dort gestaltet. Immer wieder zieht die Waldgruppe los, lernt die Umgebung kennen und erschließt sich Plätze zum Spielen.
Was bringt einem Kind der Wald?
Wir leben in einer Zeit, die sehr schnelllebig ist. Kinder bekommen oft wenig Möglichkeiten, in ihrem meist durchgeplanten Alltag der heutigen Zeit, sich selbst und ihre eigene Mitte zu finden. Familienzeit ist kostbar und leider oft zeitlich knapp bemessen. Oft hat das Kind kaum die Möglichkeit, die schnell hereinprasselnden Reize zu verarbeiten und langfristige Verknüpfungen zu bilden. Im Waldkindergarten kann das Kind die Zeit finden, sich in seinem eigenen Tempo zu entwickeln.
Jedes Kind sollte die Chance bekommen, sich selbst mit allen Sinnen, erspüren zu dürfen:
- mit beiden Füßen auf dem Waldboden zu stehen
- Kräfte beim Klettern und Laufen bewusst einschätzen und dosieren zu können
- gegen den Wind zu laufen, oder zu spüren, wie er uns vorantreibt
- zu hören, wie es im Gebüsch knackt und zu sehen, wie kurz darauf das Reh aufspringt
- den Duft von Pilzen in der Nase zu haben und kurz darauf zu sehen, wie sie aus dem Boden sprießen und darauf zu achten, nicht auf die selbigen zu treten
- beim Klettern am Baum abzuschätzen, an welchem Ast man sich festhalten kann und welcher brechen könnte
Sehen, spüren, hören, denken, Krafteinsatz, alles im Körper ist in solchen Momenten miteinander im Einklang. All das ist Lernen.
Dabei verbinden sich in den Gehirnen unserer Kinder wichtige Schaltkreise, Synapsen genannt. Einmal verbunden, bleiben sie ein Leben lang erhalten. Der Mensch lebt von der Wiederholung. Nur Regelmäßigkeit bringt langfristiges Lernen, das sich festigt. Dazu braucht es tägliches, jahrelanges Erleben. Das Aufwachsen im Wald bildet für viele Kinder die optimale Grundlage für jedes spätere Lernen.
Soziale Gemeinschaft
Das Kind versteht sich noch mehr als Teil einer Gruppe, denn im Wald muss man zusammen helfen.
Achtsamkeit
Das Kind lernt alle seine Sinne kennen und sie sinnvoll einzusetzen.
Neugier und Wissensdurst
Warum werden Bäume gefällt? Wie gehen wir mit der Natur im Allgemeinen um? Welche Rolle spielt der Mensch dabei?
Empathie und Rücksichtnahme
Wieso sollte ich im Frühjahr nicht durchs Dickicht schlüpfen? Ach so, ich soll die Rehe mit ihren Kitzen nicht stören. Insekten und Schneckentiere kann ich beobachten, aber sie gehören mir nicht. Ich darf sie nicht übergriffig behandeln, obwohl ich körperlich die Voraussetzungen hätte. Ein Kind, das bis zum sechsten Lebensjahr, der entscheidenden Phase seiner Gehirnbildung, die Möglichkeit hatte, auf diese Art zu leben, zu denken und zu lernen, hat im Idealfall eine gute Grundlage, um in der Schule und auch im späteren Alltag, alles bereitwillig aufzunehmen was da so kommt, weil sich die erforderliche Basis vollständig bilden konnte. Zu viele Reize erschweren diesen Prozess. Das Kind erfasst einen Gedanken, beginnt sich mit einer Sache zu beschäftigen und wird unterbrochen, weil schon wieder der nächst Reiz einströmt. Der Waldkindergarten soll für das Kind wie eine Insel sein. Ein Ort, den sich das Kind selbst erschließt, der nicht vorgefertigt ist.
Auch die Vorschulerziehung kommt nicht zu kurz. Sie ist in den normalen Alltag der Kinder eingebunden und nicht auf das letzte Jahr beschränkt. Wir haben im Wald viel Zeit für Gespräche. Während des Laufens zu verschiedenen Orten, beginnen viele Kinder Unterhaltungen über Gott und die Welt. Meinungen werden ausgetauscht, Hypothesen gebildet. Kleine Forscher sind am Werk. Fragen werden aufgeworfen. Warum fließt Wasser immer nach unten? Und was ist eigentlich Nebel?
OK, schauen wir im Lexikon nach und machen vielleicht am Waldplatz ein Experiment dazu. Was brauchen wir an Material dazu? Können wir es in der Natur sammeln? Oder: Das Kind möchte gerne im Waldkindergarten mit einem Spielzeugauto spielen.
Können wir uns eines bauen? Welche Materialien kann ich im Wald dazu finden? Und wie können wir daraus ein Auto bauen? Kleine Ingenieure sind plötzlich am Werk. Nicht weil ein Erwachsener die Aufgabe vorgibt, sondern weil die eigene Motivation die kleinen Menschen antreibt. Bäume werden gezählt, Zapfen gesammelt. Es wird gerechnet und vielleicht werden sogar Buchstaben damit gelegt. Einfach nur, weil die Situation es gerade anbietet und das Entwicklungsfenster des Kindergehirnes gerade geöffnet ist. Der Vollständigkeit halber muss auch noch das Immunsystem der Kinder erwähnt werden. Mittlerweile sollte sich herumgesprochen haben, dass Kinder, die sich größtenteils in der Natur aufhalten, weniger anfällig für Infekte und generell körperlich belastbarer sind.
Also, dem Kind zu lehren, nicht auf eine Raupe zu treten, ist für so viel mehr Dinge nützlich, als dass die Raupe am Leben bleibt und das Kind lernt, dass sie nützlich für die Natur ist. Es ist die Grundlage alles Lernens, Erlebens und nicht zuletzt der seelischen Gesundheit des Kindes selbst.